Montag, 4. Oktober 2010

In den Fängen der Evangelikalen

Nur zur Erinnerung. Der derzeitige Bundespräsident Wulff ist ein Evangelikaler.
(c) Peter Mühlbauer, heise.de
Interview mit Jürgen Wolther
Jürgen Wolther alias alionsonny ist Musiker, Grafiker, Videokünstler und Telepolis-Forenteilnehmer. Früher war er in einer evangelikalen Gemeinde aktiv und stieg in deren interner Hierarchie weit auf, bevor er schließlich ausstieg.
Herr Wolther - wie wurden Sie evangelikaler Christ. Durch Geburt oder durch Bekehrung?
Jürgen Wolther: Anfänglich weder noch, sondern aus Neugier und Sinnsuche. Ich absolvierte damals eine Lehre und der Lehrort lag weit von meinem Wohnort entfernt. Da die Busversorgung im dortigen ländlichen Bereich eher bescheiden war, fuhr ich oft per Anhalter nach Hause. Eines Tages nahm mich ein sehr netter junger Mann mit, der der Sohn einer Hauskreisleiterin war. Irgendwie kam man ins Gespräch und er lud mich zu einem dieser Hauskreise ein. So kam der erste Kontakt zustande. Ich war damals neu in die Gegend gezogen und war deshalb über jeden Kontakt froh. Spirituelle Themen interessierten mich eh, also fand ich das ganze einfach nur interessant und "anders". Ein dermaßen intensiver Ausdruck von Religiosität war mir mit meinen damals 17 Jahren noch nie begegnet. Ich kannte halt nur die ganz normale Kirche und die aufgrund der weitgehenden Religionsablehnung in meinem Elternhaus meist nur von außen.
Es war also eine Art Exotik, die Sie anzog? 
Jürgen Wolther: So könnte man es durchaus sagen. Die nach außen hin liebevolle und niemanden ausschließende, gastfreundliche und fröhlich wirkende Art mit Menschen umzugehen faszinierte mich und zog mich an. Und diese Menschen schienen tatsächlich zum sonst so fernen Gott eine persönliche Beziehung zu haben. Das wollte ich auch. Zudem setzten, das weiß ich heute, die jüngeren weiblichen Gemeindemitglieder ihren Charme ein, um gerade junge Männer in die Gemeinde zu ziehen. Ich erlag zum Beispiel dem Charme der Tochter der Hauskreisleiterin, die - wie ich - Gitarre spielte. Und zum gemeinsamen Gitarrespielen gab es in der Gemeinde mit ihren vielen Lobpreisabenden reichlich Gelegenheit. 
Das heißt wenn bei den Missionaren, die an der Tür klingeln, auffällig häufig adrett gekleidete junge Damen dabei sind, ist das kein Zufall? 
Jürgen Wolther: Das Kann Zufall sein, ist es aber meines Erachtens nicht. Ich muss hier allerdings anmerken, dass mir ein Missionieren an der Haustür, wie man es bei den Zeugen Jehovas kennt, von den Evangelikalen nicht bekannt ist. 
Was versteht man denn genau unter Evangelikalen? Zählt jede Freikirche dazu? 
Jürgen Wolther: Ich habe selbstverständlich nicht alle Freikirchen Deutschlands kennengelernt, aber durchaus viele. Und von denen konnte man durchaus alle als evangelikal bezeichnen. Da Hauptkennzeichen der evangelikalen Bewegung ist, dass die Bibel wörtlich genommen wird und möglichst keine Interpretation versucht wird. Wenn zum Beispiel in der Bibel gesagt wird, dass Krankheiten durch Handauflegung geheilt werden, dann ist das so. Und damit nicht genug. Da jeder der wirklich an Jesus glaubt, also ihn als seinen Erlöser akzeptiert hat, selbst so etwas wie ein kleiner Jesus ist, kann wirklich Jeder - genug Glaube vorausgesetzt - durch Handauflegung auch schwerste Krankheiten heilen.
Evangelikal heißt, die Bibel absolut wörtlich zu nehmen, wobei dann allerdings oft bizarre Auslegungen der Bibel entstehen. Als Hauptströmungen der Evangelikalen in Deutschland sehe ich die sogenannten Charismatiker und Pfingstler. Und da die meisten Freikirchen in Deutschland sich zu einer dieser beiden, übrigens sehr ähnlichen, Strömungen zählen, denke ich schon, dass die meisten Freikirchen als zu den Evangelikalen gehörig bezeichnet werden können. 
Hat man Sie als Siebzehnjährigen gleich mit solchen bizarren wörtlichen Auslegungen konfrontiert - oder wurde das eher zurückgehalten? 
Jürgen Wolther: Also ich wüsste nicht, dass man sich besonders zurückgehalten hätte. Sie müssen verstehen: Für diese Menschen ist das Gottes Wort und da gibt es keine Zurückhaltung. Sicher hat man mir nicht gleich vom ersten Augenblick des Kennenlernens reinen Wein über den sehr autoritären Charakter der Bewegung eingeschenkt. Man hat schon eine "Schonphase", aber das ist nur, damit man nicht gleich wieder wegläuft. Und eine altersabhängige Zurückhaltung gibt es überhaupt nicht. Ich erinnere mich, dass selbst die Kleinsten (unter anderem die 6-jährige Tochter einer behinderten Gemeindeschwester) zum Beispiel schon mit recht drastischen Schilderungen darüber konfrontiert wurden, was mit den Ungläubigen in der Hölle geschieht. Nein: Gottes Wort und dessen unverfälschte Verkündigung kann für einen Evangelikalen in keinster Weise negative Aspekte entfalten. 
Wie unterschied sich die Schonphase von später? Und wie zeigte sich der autoritäre Charakter der Bewegung? 
Jürgen Wolther: In der Schonphase wurde man eigentlich nur mit den positiven Aspekten der Gemeindezugehörigkeit konfrontiert. Also, Singen, Geselligkeit und Gott hat alle lieb, die recht gläubig sind. Spenden wurden zu diesem Zeitpunkt keine eingefordert. Dass sich der zukünftige Gläubige noch mit seinen weltlichen Freunden traf, in die Disco ging, weltliche Musik hörte, wurde noch nicht bemängelt. Auch hatte man anfänglich keine Pflichten innerhalb der Gemeinde. Dies änderte sich nicht schlagartig - aber je mehr von Hauskreisleitern, Gemeindeältesten und langjährigen Mitgliedern der Gemeinde wahrgenommen wurde, dass man nun dazu gehört, desto mehr wurden Forderungen gestellt, wie zum Beispiel, dass man den Zehnten spenden sollte, Aufgaben in der Gemeinde übernehmen sollte, sich von "der Welt" und den weltlichen Freuden und Freunden trennen und neue Schäflein für die Herde gewinnen sollte. 
Sind Sie diesen Forderungen nachgekommen? 
Jürgen Wolther: Zum großen Teil, schließlich fand ich es damals noch ganz toll in dieser für mich neuen Welt. Ich habe mir trotzdem heimlich einige Freiheiten genommen und stellte auch später fest, dass dies so ziemlich jeder tat, bis hoch zum Pastor und den Gemeindeältesten. Man durfte sich halt nur nicht erwischen lassen. Ein paar "weltliche Leichen" hatte eigentlich jede und jeder im Keller. Das reichte von zum Beispiel meinem heimlichen Alkoholkonsum und Discobesuchen über die heimliche Homosexualität eines hoch angesehenen Gemeindemitglieds bis zur Gewalt, die der Gemeindepastor an seiner Frau und seinen Kindern vollzog. 
Über manche "Geheimnisse" wussten viele in der Gemeinde bescheid, es wurde aber nicht darüber gesprochen. So etwas wurde Dann zur Sprache gebracht wenn es darum ging das jeweilige Gemeindemitglied wegen anderer Dinge zu disziplinieren. Was die Pflichten anging: Vor denen konnte man sich schlecht drücken, denn das wurde recht schnell mit Psychoterror abgestraft. Ich kam, wie gesagt, den Forderungen recht umfassend nach und dies war auch der Grund weshalb ich recht schnell das Wohlwollen der Ältesten errang und in der internen Hierarchie aufstieg. 
Wie zeigte sich dieser Aufstieg? 
Jürgen Wolther: Beinahe hätte ich gesagt "durch noch mehr Aufgaben". Ja, sicher brachte das ganze mehr Aufgaben mit sich - aber ich begriff diese Aufgaben damals als Privileg. So war der erste Aufstieg mit Sicherheit der, dass ich nicht nur lediglich bei privaten Hauskreisen Gitarre spielte, sondern der Gemeindeband vorstand, die durchaus rockiges spielte. Ich leitete danach den Jugendkreis für Jugendliche ab 12 Jahren und war somit schon fast der Pastor für die Jugendlichen. Doch damit nicht genug: Ich wurde stellvertretender Pastor und durfte nun also auch vor der gesamten Gemeinde predigen. Dies hatte ich aber wohl hauptsächlich dem Umstand zu verdanken, dass man nicht übersehen konnte dass ich a.) gut reden konnte und b.) inzwischen recht bibelfest war. Ja, in diesen Gemeinden werden Begabungen recht schnell erkannt und genutzt. 
Werden solche Tätigkeiten vergütet? 
Jürgen Wolther: Um Gottes willen!!! Daran würde doch niemand ernsthaft denken. Schließlich ist doch die Arbeit am Hause des Herrn und seiner Gemeinde Lohn genug für einen recht gläubigen Christenmenschen. Außerdem soll man seinen Lohn nicht auf Erden und in weltlichen Dingen suchen, sondern im Reiche Gottes. Erst später musste ich erfahren, dass es einige - unter anderem der Pastor - etwas anders sahen und Wasser predigten, während sie Wein soffen. 
Wie sah dieses Wein saufen genau aus? 
Jürgen Wolther: Nun, es wurde ja wirklich reichlich gespendet. Jedes ordentliche Gemeindemitglied zahlte ja den Zehnten (also 10% seines Einkommens) in die Gemeindekasse - so wie es in der Bibel verlangt wird. Dazu kamen noch die reichlichen Spenden die bei den Gottesdiensten eingefordert wurden - und zwar nicht etwa anonym und freiwillig. Zugegeben: Ein beträchtlicher Teil davon floss tatsächlich in den Unterhalt der Gemeinde, ihrer Räumlichkeiten et cetera. Allerdings hatte zum Beispiel der Pastor keinen anderen Job als den des Pastors der Gemeinde und fuhr einen für diesen Umstand recht luxuriösen Wagen. Zudem hatte er ein nicht gerade kleine bescheidenes Domizil in einer vorzüglichen Wohnlage. Und dieses hatte er bauen lassen, als er bereits Pastor der Gemeinde war. 
Der Mann lebte das Leben eines wohlhabenden Erdenbürgers und später erfuhr ich, dass die wochenlangen Reisen, die er unternahm, ihn nicht etwa (wie er angab) in christlicher Mission in befreundete Gemeinden oder zu christlichen Kongressen führten, sondern durchaus mal nach Mauritius oder in die Dominikanische Republik. Obwohl ... vielleicht gab es dort ja befreundete Gemeinden ... Der Hofstaat des Pastors, der sich Älteste nannte, bediente sich auch lustig aus der Gemeindekasse, beziehungsweise wurde daraus gut vom Pastor nach Gutdünken und Wohlgesonnenheit versorgt. So richtig kam ich persönlich erst dahinter, als ich selbst zum Empfänger solcher Vergünstigungen werden sollte. 
Was ging da genau vor sich? 
Jürgen Wolther: Nun ja, ich hatte abends, als ich im Gemeindebüro noch etwas vorbereitete, mitbekommen, wie unser Pastor einem der Ältesten einen größeren Schein aus der Spendenkasse zusteckte. Ich besaß die Frechheit den Pastor zu fragen, womit sich der Bruder dieses großzügige Geschenk verdient hatte. Die Antwort bestand aus Ausflüchten und Ermahnungen, dass es mir nicht zustände, Entscheidungen des Ältestenrates in Frage zu stellen et cetera. Irgendwie merkte unser Hirte aber, dass er aus der Sache nicht so einfach rauskommen würde. Er sagte er hätte jetzt keine Zeit und wir würden das ganze am nächsten Tag weiter besprechen. 
Am nächsten Tag war Herr Pastor aber schon wieder auf Reisen. Und jetzt kommt es: Ich hatte kurz vorher geäußert, dass mein altes klappriges Fahrrad, das ich dringend brauchte, einen irreparablen Tretlagerschaden hatte. Ungefähr drei Tage nach der Konfrontation erhielt ich "von der Gemeinde" ein nagelneues Fahrrad geschenkt - und Kein billiges. Ich war so platt und beschämt, dass ich fürs Erste keine Lust mehr hatte, mich den finanziellen Irrungen der Gemeindekasse zu widmen. 
Von diesem Zeitpunkt bis kurz vor meinem Ausscheiden aus der Gemeinde kam es dann noch öfter vor, dass mehr oder weniger erfolgreich versucht wurde, Kritik meinerseits durch monetäre Zuwendungen zu unterbinden. Als ich bemerkte, dass dahinter ein Prinzip steckte, war ich reichlich enttäuscht von der doch so weltlichen Umgangsweise der Gemeindeleitung. Ich hatte mich inzwischen ja tatsächlich von einem Neugierigen zu einem schon fanatisch zu nennenden feurigen christlichen Eiferer entwickelt. Und was mir jetzt über die Gemeinde offenbar wurde versetzte mich in einen "heiligen Zorn". 
Das Religiöswerden war also eine Voraussetzung für das Erkennen der problematischen Natur der Religionsgemeinschaft? 
Jürgen Wolther: Wer nicht 200% für die Gemeinde gab, hatte keine Chance hinter die Kulissen zu schauen. Und wirklich alles für die Gemeinde zu geben ist einem nur dann möglich, wenn man ein Fanatiker wird. Für mich war die Jesus, die Gemeinde etc. damals Alles. Ich kann daher sehr gut verstehen, wie fanatischer, extremistischer Glaube zustande kommt. Ja, ich wäre bereit gewesen für meinen Glauben zu sterben, vielleicht sogar zu töten. Und Genau solche Schafe brauchen die Hirten um sich, in ihrem engsten Zirkel. Wer einfach nur mehr oder weniger mitmacht, der bleibt im Gebetssaal und wird zum Beispiel nicht zum Pastor nach Hause eingeladen oder darf mit den Ältesten diskutieren. Dies ist jenen vorbehalten, die im Glauben voll aufgehen und das sonstige Leben komplett hinter sich gelassen haben. 
Wie ging das mit dem "heiligen Zorn" dann weiter? 
Jürgen Wolther: Es dauerte schon einige Zeit, bis mir überhaupt der Gedanke kam, mich offen gegen die Gemeindespitze zu stellen. Schließlich hatte, so wurde es immer wieder gelehrt, Gott persönlich jeden von uns an seine Position innerhalb seiner großen Familie gesetzt. Aber mit der Zeit begriff ich - und das war nicht leicht zu verdauen - dass es in dieser Gemeinde wie überall in der Welt verlief. Unsere Hirten strebten nach nichts anderem als Politiker, Wirtschaftsbosse et cetera: Geld und Macht über Menschen. Nur dass die Politiker und Wirtschaftsbosse ganz offen im Namen der Macht über Menschen agierten und unsere Gemeindehirten den Menschen falsche Glaubenshoffnungen machten. 
Eines war klar: Wenn Gott irgendwo im Universum wäre, dann auf keinen Fall in einer dieser Gemeinden. Es war ja nicht so, dass in diesen Gemeinden überwiegend neugierige und glaubenswillige Menschen wie ich waren. Nein! Auf Missionstouren wurden die seelisch schwachen gesucht und sie wurden in eine grausame Abhängigkeit zur Gemeinde gebracht. Oft rühmten sich unsere Hirten, dass ja schließlich auch oft Drogenabhängige zu Jesus fänden und dann von den Drogen ließen. Aber in Wirklichkeit war es doch so, dass sie einfach nur die Droge und den Dealer wechselten. Ihre Droge hieß jetzt Jesus und die Dealer waren Pastor und Gehilfen. Und jene entzogen dem Junkie die Droge wenn er nicht parierte. 
Dann waren da noch solch offensichtliche Lügen wie die mit den Wunderheilungen und das sogenannte Zungen- oder Sprachengebet. Nein, nach einiger Zeit konnte ich einfach nicht mehr. Ich musste etwas tun. Ich war auf dem Weg, so zu werden wie diese Blutsauger und sah mich schon eines Tages als Pastor der Gemeinde, wie unser derzeitiger Pastor mir gegenüber es ja schon öfter angekündigt hatte. Das durfte nicht passieren.
Ich sammelte ab diesem Augenblick alles was ich an Verfehlungen der Gemeindespitze und auch bedeutender Gemeindemitglieder ermitteln konnte. Und als der Pastor mal wieder eine andere Gemeinde besuchte und ich predigen durfte, fiel meine Predigt etwas anders aus. Es war eine Brandrede gegen die Lüge und Täuschung, gegen die Selbstbeweihräucherung und -bereicherung innerhalb der "Herde Gottes". Da ich die Predigt so angelegt hatte, das am Anfang lediglich unverfängliches Schimpfen über die Lüge und Unmoral an sich kam, das mit viel und lauten Amen-Rufen sogar der Ältesten bedacht wurde, und erst am Ende persönlich wurde, waren die Betroffenen dermaßen überrascht, dass sie wie vom Blitz gerührt da saßen. Am Ende erklärte ich die Aufgabe sämtlicher Positionen und meinen Austritt aus der Gemeinde und ging einfach. Ich fühlte mich unglaublich erleichtert, hatte aber gleichzeitig auch etwas Angst vor der Zukunft. 
Setzen die Evangelikalen solch eine Angst vor der Zukunft gezielt ein, um Mitglieder vom Ausstieg abzuhalten?Jürgen Wolther: Ja, unbedingt! Dass ein gutes Mitglied der Gemeinde sämtliche Freunde außerhalb der Gemeinde, also weltliche Menschen, aufgeben muss hat ganz klar den Zweck, dass man absolut alleine da steht, wenn man die Gemeinde verlässt. Besonders perfide ist dabei, dass von dieser Trennung auch die Familie betroffen ist. Nicht nur einmal habe ich in Gesprächen mit Gemeindeneulingen gehört, dass diesen gesagt wurde "Also entweder Dein Vater, (Mutter, Bruder,Schwester, Tochter, Sohn) findet auch zu Jesus, oder Du musst Dich leider von ihm oder ihr trennen". Natürlich wurde versucht, den Neuling dazu zu bringen die Angehörigen für die Gemeinde zu werben. Als Argument für dieses doch sehr harsche Vorgehen wurde gern Matthäus 10:34-36 hergenommen, wo es heißt:  
"Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig."
So oder so war es eine Win-Win-Situation für die Gemeindeobersten. Trennte sich der Anwärter von seiner Familie, so war ab diesem Augenblick die Gemeinde die Familie. Fanden die Familienmitglieder zum Glauben, so war die Familie in der Gemeinde und ein Ausstieg noch schwieriger. Es brauchte gar nicht ausgesprochen zu werden, aber ich habe auch einige Male mitbekommen, dass so etwas wie "Was willst du denn da draußen? Was hoffst du zu finden? Deine Familie, Deine Freunde sind bei Jesus!" zu Zweiflern gesagt wurde. Zusätzlich kommt natürlich auch noch, dass der Glaube sehr tief in die Seele eingedrungen ist und alles verdrängt hat, was dem Leben sonst Sinn gab. Und man zweifelt nach dem Ausstieg lange und hat Schuldgefühle gegenüber Jesus und Gott. Auch wenn man noch so überzeugt ist, das richtige getan zu haben, bleibt der Zweifel und die Angst vor einer Strafe des liebenden Gottes und des Opferlamms. 
Klingt wie das, was Scientology häufig vorgeworfen wird. Sind Evangelikale ihrer Ansicht nach damit vergleichbar? 
Jürgen Wolther: Ich habe zugegebenermaßen mit Scientology keine persönliche Erfahrung. Wenn allerdings das stimmt, was in den Medien über Scientology behauptet wird, dann ist das, was ich in der evangelikalen Bewegung gesehen und erlebt habe, nicht nur damit zu vergleichen, sondern identisch. Es sind genau die selben Faktoren, die bei der Transformation des Anwärters vom Weltmenschen zum Evangelikalen zum Einsatz kommen. Und es ist tatsächlich als Wiedergeburt zu bezeichnen. Wenn man diese Transformation durchlaufen hat, ist man tatsächlich ein anderer Mensch. Und zwar einer, der zur heutigen menschlichen Gesellschaft außerhalb evangelikaler Gemeinden 100% inkompatibel ist. 
Dauerte die Abkoppelung lange? Und gab es Rückfälle? 
Jürgen Wolther: Nun ja, ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen Aussteigern einen entscheidenden Vorteil. Man wollte mich gar nicht mehr in der Gemeinde haben und somit blieben mir die Versuche der Gemeindemitglieder erspart, mich in den Schoss der Gemeinde zurück zu holen. Ich war ein Ausgestoßener und hatte es selbst so gewollt. Die Zweifel, Selbstvorwürfe und Ähnliches dauerten lange an. Und in schweren Notzeiten kommt mir auch heute oft noch der Gedanke, ob ich es nicht alles falsch verstanden habe und Gott mich straft. Natürlich weiß ich, wenn ich logisch und sachlich über das ganze nachdenke, dass dies alles nur die Nachwirkungen der gründlichen Psychoprogrammierung sind, die ich höchstwahrscheinlich nie wieder loswerde. Ja, ich bin später noch ein paar mal in Veranstaltungen der Evangelikalen gegangen, also rückfällig geworden - aber nie für lange. 
Sie glaubten also während Ihrer Zeit bei den Evangelikalen tatsächlich an die christliche Metaphysik? Oder waren es eher Sekundärtugenden (Sauberkeit, Ordentlichkeit, Verlässlichkeit, et cetera), für die Sie diese in Kauf nahmen? 
Jürgen Wolther: Ja, ich glaubte an das ganze Prozedere. Ich hatte zwar anfänglich meine Zweifel an solchen Dingen wie Heilung durch Handauflegen. Da ich aber glauben wollte, war dies auch nur ein geringes Hindernis. Ob und in welchem Umfang die genannten Sekundärtugenden praktiziert wurden, war mir eigentlich egal. Mir ging es ganz klar um den spirituellen Faktor. 
Wird Heilung durch Handauflegen tatsächlich auch in Deutschland praktiziert? Und hält das Menschen davon ab, bei ernsthaften Erkrankungen einen Arzt aufzusuchen? 
Jürgen Wolther: Oh ja! Heilung durch Handauflegen und Austreibung böser Geister und Dämonen "in Jesu Namen" wird in allen charismatischen und pfingstlerischen Gemeinden praktiziert. Und es hält "wahre Gläubige" davon ab, in ernsten Fällen einen Arzt zu konsultieren. Für einen "wahren Gläubigen" gibt es keine Krankheit, die nicht durch Gebet, Handauflegen und das Vertreiben von Dämonen besiegt werden kann. Da die meisten Ärzte ja eh "weltlich", also keine Wiedergeborenen sind, können diese wohl auch keine Krankheiten besiegen. 
Werden Kranke, die so etwas glauben, durch Kirchenführer darin bestärkt? 
Jürgen Wolther: Das habe ich durchaus so erlebt. Da war zum Beispiel eine Frau, die an einem gefährlichen Leberleiden litt. Ihr wurde weisgemacht, dass Ärzte eh nur an weltlichem Gewinn interessiert sind und ihr deshalb nicht wirklich helfen wollen. Es wurde ihr gesagt, dass, wenn sie nur genug glauben würde und für sie gebetet würde, ihre Heilung eine sichere Sache wäre. 
Sind evangelikale Kirchenführer Ihrer Ansicht nach durch solche Reden auch für Tote mitverantwortlich? 
Jürgen Wolther: Jene, die Menschen solchen Blödsinn einreden sind meines Erachtens ganz klar für jeden gesundheitlichen Schaden verantwortlich, der dadurch entsteht. Die Dame mit dem Leberleiden ist übrigens eines Tages, nachdem sie zuhause kollabierte, in ein Krankenhaus eingeliefert worden, wo sie verstarb.

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